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Wer alles hat, weiß nichts zu schätzen. Wer nichts hat, weiß alles zu schätzen.
Raquella Berto-Anirul,
Allgemeine Beurteilung philosophischer Weisheiten
Sobald Omnius mit einer militärisch übermächtigen Flotte einen neuen Angriff führte, war Richese dem Untergang geweiht. Ohne Zweifel hatte der verdammenswürdige Seurat nach seiner Flucht dem Allgeist hochwichtige Informationen über die Titanen-Rebellen mitgeteilt. Durch Urteilsbildung über ihre bisherigen Fehler konnten die Denkmaschinen ohne weiteres die Notwendigkeit errechnen, eine wesentlich stärkere Flotte einzusetzen und höhere Verluste zu veranschlagen. Dann würden sie mit genügend Schlachtschiffen und genug Feuerkraft wiederkehren, um den Cymek-Stützpunkt zu vernichten. Die Titanen hätten keine Chance mehr.
General Agamemnon ging davon aus, dass ihm höchstens noch ein Monat Frist blieb.
Er und seine Cymek-Gefolgsleute mussten Richese aufgeben und verlassen, aber er konnte nicht einfach wie ein verscheuchter Hund irgendeinen Planeten aufsuchen. Denkmaschinen oder Hrethgir würden ihm möglicherweise einen bösen Empfang bereiten. Es mangelte ihm an ausreichenden Informationen und Personal, um einen anderen geeigneten Planeten ausfindig zu machen, zu unterwerfen und ein neues Bollwerk zu gründen.
Dank tausendjähriger Erfahrung als militärischer Befehlshaber verstand er die Notwendigkeit, sorgfältige Aufklärung zu betreiben und sämtliche Optionen gründlich zu analysieren. Da von allen ursprünglichen Titanen nur noch drei am Leben waren, durfte Agamemnon es sich keinesfalls erlauben, vermeidbare Risiken in Kauf zu nehmen. Obwohl er mittlerweile seit deutlich über elf Jahrhunderten lebte, bedeutete ihm das Überleben mehr als je zuvor.
Juno, seine Geliebte, hatte ähnliche Ambitionen und Ziele wie er. Sie war vom zweiten Cymek-Planeten – Bela Tegeuse – zurückgekehrt und beriet sich jetzt mit ihm in der weitläufigen Festung auf Richese, drehte anmutig den Kopfaufsatz und musterte Agamemnon mit ihren funkelnden optischen Fasern. Ungeachtet der äußerlich fremdartigen, nichtmenschlichen Konfiguration empfand Agamemnon ihr Hirn und ihre Persönlichkeit als ausgesprochen schön.
»Nachdem wir uns von Omnius' Vorherrschaft befreit haben, brauchen wir neue Welten, Geliebter, weitere Populationen, die unserer Dominanz unterstehen.« Ihre volltönende Stimme umfasste wundervolle Schwingungen. »Allerdings ist unsere Zahl zu gering, um uns ernstlich mit den Hrethgir oder den Synchronisierten Welten anzulegen. Und die Denkmaschinen werden Richese in Kürze erneut angreifen.«
»Zumindest bleibt es Omnius verwehrt, uns drei zu töten.«
»Das ist der einzige Trost. Aber Omnius wird alles vernichten, was wir aufgebaut haben, unsere Gefolgsleute abschlachten und die Konservierungsbehälter aus unseren Aktionskörpern reißen. Selbst wenn wir dadurch nicht sterben, könnte er unsere Elektroden entfernen und uns in eine ewige Hölle des Wahrnehmungsentzugs stürzen. So etwas wäre schlimmer als der Tod. Wir wären schlichtweg außer Betrieb.«
»Dazu wird es niemals kommen«, antwortete Agamemnon in bassbetontem Grollen, das die Säulen der geräumigen Halle erzittern ließ. »Ehe ich so etwas zulasse, werde ich selbst dich töten.«
»Ich danke dir, Geliebter.«
Im nächsten Moment lenkte Agamemnon seinen Laufkörper durch den Torbogen und sendete den Neos bereits die Anweisung, sein schnellstes Raumschiff startfertig zu machen. »Du und Dante, ihr bleibt hier und verstärkt zum Schutz gegen die Denkmaschinen unsere Abwehranlagen. Ich werde uns eine andere Welt zum Beherrschen suchen.« Er ließ seine optischen Fasern blinken, sodass in seinem Geist ein Mehrfachbild von Juno entstand. »Mit etwas Glück findet Omnius uns dann für lange Zeit nicht wieder.«
»Ich ziehe es vor, nicht auf Glück, sondern auf deine überlegenen Fähigkeiten zu bauen.«
»Vielleicht brauchen wir beides.«
Der Titanen-General entfernte sich mit einer Beschleunigung von Richese, die jedes schwache menschliche Geschöpf das Leben gekostet hätte, und machte sich auf den Weg zu seinem geheimen Kontaktmann im Maschinen-Imperium.
Wallach IX war eine unbedeutende Synchronisierte Welt, auf der Yorek Thurr über eine bedauernswerte Herde versklavter Menschen herrschte. Jahrzehntelang war Thurr eine ständige Quelle allerdings unzuverlässiger Informationen sowohl über Omnius wie auch über die Liga der Edlen gewesen. Er hatte Agamemnon vom Wiederauftauchen Hekates in Kenntnis gesetzt, nachdem sie lange verschollen gewesen war, und von ihrer unvermuteten Unterstützung für die Sache der Hrethgir. Ebenso hatte er ihm die Reisepläne Venports und der verhassten Zauberin Cevna verraten, sodass Beowulf ihnen im Ginaz-System hatte auflauern können. Anscheinend machte es Thurr nicht im Mindesten nervös, drei Parteien gegeneinander auszuspielen.
Der Titanen-General hatte sich in ein extravagantes Fortbewegungsmittel eingefügt, das Umrisse von einschüchternder Wucht sowie ein breites Sortiment exotischer Waffen und starke Greifarme aufwies. Im Weltall diente es als Raumfahrzeug und auf dem Boden als Laufkörper. Sobald er auf Wallach IX auf einem weiträumigen Platz gelandet war, fuhr er tragfähige, flache Füße aus, rekonfigurierte den Maschinenkorpus und zeigte sich in neuer Furcht erregender Gestalt. Thurrs Ratschläge mochten bisweilen nützlich sein, aber völlig traute der General ihm nicht.
Geduckte Menschensklaven wichen beiseite, während der Titan über die Boulevards zur eindrucksvollen Zitadelle marschierte, die Thurr nach der Krönung zum König dieses Planeten erbaut hatte. Vordergründig galt Wallach IX als Synchronisierte Welt, jedoch behauptete Thurr, den hiesigen Allgeist überlistet und manipuliert und sich seiner Kontrolle entzogen zu haben. Angeblich hielt er die lokale Omnius-Inkarnation auf gerissene Weise isoliert und in Unwissenheit, indem er sie durch eine spezielle Programmierung beeinflusste.
Agamemnon kümmerte es nicht. Falls der Allgeist über verborgene Wächteraugen verfügte und dem Menschen irgendwann falsches Spiel nachweisen konnte, sah Thurr der Exekution entgegen. Über die Cymek-Rebellen war das Todesurteil ohnehin längst gefällt.
Weil sein Laufkörper so enorme Ausmaße hatte, musste der Titan ständig die Arme hin und her bewegen, um hinderliche Mauern umzustoßen und zu enge Tore zu erweitern, da er andernfalls die Zitadelle nicht hätte betreten können. Nebenbei war es unter militärischen Gesichtspunkten sinnvoll, Macht zu demonstrieren und dem Wendehals nachhaltig seine Unterlegenheit zu verdeutlichen.
Doch als Agamemnon den selbstherrlichen Thronsaal erreichte, den Thurr für sich entworfen hatte, wirkte der Mensch weder beunruhigt noch eingeschüchtert. Er lehnte auf seinem großkotzigen, aufwändig gestalteten Thron und musterte den Cymek mit stumpfem Blick. »Willkommen, General Agamemnon. Es bereitet mir jedes Mal Vergnügen, so hohen Besuch zu erhalten.«
Thurrs Thron stand auf einem wuchtigen Podest. Sockel und Sitz waren aus polymerisierten Skelettteilen hergestellt worden. Lange Oberschenkelknochen bildeten die Stützen und abgerundete Schädel den kunstvollen Untersatz. Das Design erweckte einen unnötig barbarischen Eindruck, aber Thurr genoss es, dadurch Einfluss auf die Gemütsverfassung seiner Besucher zu nehmen.
Große Vitrinen säumten eine Wand des Thronsaals. Sie enthielten exotische Waffen. Vorübergehend lenkte die Schönheit einer antiken Projektilwaffe Agamemnons Aufmerksamkeit ab. Er betrachtete sie genauer. In den weißen Beingriff war meisterhafte Handwerkskunst eingeflossen; eingeschnitzte Abbildungen zeigten Szenen des gewaltsamen Todes, der durch diese Waffe verursacht werden mochte. Während vieler Jahre hatte auch Agamemnon solche Waffen gesammelt, allerdings nicht wegen ihres Bedrohungspotenzials, sondern als amüsante Museumsstücke.
»Möchtet Ihr mir ein vorteilhaftes Angebot unterbreiten, General?«, fragte Thurr mit gerümpfter Nase. »Oder seid Ihr hier, um eine Gefälligkeit zu erbitten?«
»Ich bitte nie um Gefälligkeiten.« Agamemnon spreizte die mächtigen Arme und erweiterte die Körpergröße, plusterte sich auf wie ein Vogel. »Von jemandem wie dir würde ich Unterstützung fordern, und es müsste dir eine Gunst sein, sie leisten zu dürfen.«
»Jederzeit, General. Ich würde Euch zu gern einen Trank reichen lassen, aber ich glaube, selbst einen Wein des allerbesten Jahrgangs wüsstet Ihr nicht im Geringsten zu würdigen.«
»Wir versorgen uns mit frischem Elektrafluid, wenn es nötig ist. Deshalb bin ich nicht hier. Ich brauche Kopien deiner Informationssammlungen, astronomischen Karten und geografischen Dateien bezüglich anderer Planeten. Die Vergrößerung meines Cymek-Imperiums ist überfällig. Ich muss entscheiden, welche Welt ich als Nächste erobere.«
»Mit anderen Worten, Ihr habt die Absicht, Richese aufzugeben, bevor Omnius erneut auftaucht und Euch den Garaus macht.« Seine Schlussfolgerung bewog Thurr zu einem hämischem Kichern, und er zappelte aufgeregt auf dem Thron herum. »Tatsächlich ist es nur zu ratsam, dass Ihr im Voraus plant und Eure Verteidigung stärkt, denn in Kürze wird Omnius die Hrethgir vernichtend schlagen und ihre Welten dem Synchronisierten Imperium einverleiben.«
»Angesichts der Tatsache, dass der Djihad schon seit einem Jahrhundert tobt, ist das eine äußerst kühne Vorhersage.«
»Keineswegs, denn die Denkmaschinen haben dank meiner Hilfe die Strategie gewechselt. Dank meiner Idee.« Thurr strahlte vor Stolz. »Corrin bringt soeben eine furchtbare biologische Waffe zum Einsatz. Wir erwarten, dass die Epidemie sich auf den Hrethgir-Welten ausbreitet und ganze Populationen ausrottet.«
Diese Enthüllung überraschte Agamemnon. »Offenkundig hast du Spaß am Töten, an Leid und Zerstörung, Yorek Thurr. Zu anderer Zeit hätte wohl Ajax persönlich dich für sich rekrutiert.«
Thurr strahlte. »Ihr seid zu gütig, General Agamemnon.«
»Sorgst du dich nicht darum, dass du ebenfalls infiziert werden könntest? Wenn Omnius von deinem Verrat erfährt, wird dich hier auf Wallach IX der Tod ereilen.« Der General dachte an seinen Sohn Vorian und überlegte, ob womöglich auch er der Seuche zum Opfer fallen würde. Doch die lebensverlängernde Behandlung musste sein Immunsystem in erheblichem Umfang gestärkt haben.
Thurr winkte ab. »Ach, ich hätte doch nie angeregt, die Seuche zu verbreiten, ohne mich selbst zu immunisieren. Der Impfstoff hat mir ein paar Tage lang ein seltsames Fieber verursacht, aber seitdem sind meine Gedanken ... schärfer und klarer geworden.« Er grinste und rieb sich die glatte Haut seines Kahlkopfs. »Es macht mir große Freude, auf diese Weise in die Geschichte einzugehen. Diese Seuchen-Offensive beweist meinen Einfluss deutlicher als meine sämtlichen vorherigen Taten. Endlich kann ich mit meinem Lebenswerk zufrieden sein.«
»In Wahrheit bist du ein gieriger, unersättlicher Mensch, Yorek Thurr.« Agamemnon lenkte seinen kolossalen mechanischen Körper näher zu den Waffen-Vitrinen. »Mit allem, was du angepackt hast, war dir Erfolg beschieden, erst mit der Djipol, dann als Graue Eminenz hinter dem Rock von Camie Boro-Ginjo, und jetzt bist du König eines eigenen Planeten.«
»Ja, es ist alles viel zu wenig.« Thurr erhob sich von seinem Thron aus Totenschädeln. »Die Herrschaft über diesen Planeten ist mir schon nach wenigen Jahrzehnten lästig und abgeschmackt geworden. Ich verstecke mich im Synchronisierten Imperium, niemand weiß über meine Errungenschaften Bescheid. Auf Salusa Secundus habe ich damals jahrelang auf die Djihad-Politik Einfluss genommen, aber niemand hat es bemerkt. Alle hielten den Großen Patriarchen für einen klugen Mann. Pah! Und danach hat man alle Verdienste seiner Witwe und ihrem Muttersöhnchen zugeschrieben. Nun möchte ich selber Zeichen setzen.«
Dafür hegte Agamemnon Verständnis, dennoch empfand er den anmaßenden Ehrgeiz des kleinen Menschen als drollig und kurios. »Dann dürfte es für dich am klügsten sein, mir zur Seite zu stehen, Thurr, denn wenn die neue Ära der Titanen anbricht und zahlreiche Planeten zu meinem Cymek-Imperium gehören, wird unsere Geschichtsschreibung dich als wichtigen Wegbereiter erwähnen.«
Er stellte sich vor eine Vitrine, riss die Tür aus den Angeln und griff hinein.
»Was macht Ihr da?«, fragte Thurr. »Passt bitte auf! Das sind kostbare Antiquitäten.«
»Ich erstatte dir den Gegenwert.« Agamemnon entnahm der Vitrine die Projektilwaffe, die er zuvor bewundert hatte.
»Sie ist nicht zu ver...«
»Alles hat seinen Preis.« Agamemnon öffnete an seinem Korpus ein Fach und schob die Waffe hinein. Er bewahrte darin schon andere Besitztümer auf, eine Vielzahl bemerkenswerter Tötungswerkzeuge, die eine beachtliche Sammlung darstellten. Während Thurr ihn mit bösem Blick anstarrte, schloss der General das Fach. »Schick mir eine Rechnung.«
Thurrs Augen funkelten. »Bitte behaltet das Stück und betrachtet es als ganz besonderes Geschenk. Also, was genau braucht Ihr, General? Neue Planeten zum Beherrschen? Wenn sich die von mir inspirierte Seuche ausbreitet, werdet Ihr reichlich Gelegenheit finden, Liga-Welten zu besetzen. Bald sind die Hrethgir-Planeten allesamt nur noch Friedhöfe, jeder kann sie einsacken, wenn er nur rechtzeitig zur Stelle ist. Ihr könnt Euch nach Belieben einen Planeten aussuchen.«
»So etwas wäre läppisch. Ich bin kein Leichenfledderer, sondern ein Eroberer. Ich brauche jetzt einen neuen Stützpunkt, und es kommt nur eine Welt infrage, die keine starken militärischen Streitkräfte hat. Meine Gründe gehen dich nichts an. Du hast mir lediglich eine Antwort zu geben, bevor ich die Geduld verliere und dich umbringe.«
»Aha, General Agamemnon möchte sich wehrhaft und sicher fühlen.« Sorglos nahm Thurr wieder auf dem Schädelthron Platz und legte die Fingerkuppen gegeneinander, während er nachdachte. Bald verzog er das Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Es gibt noch eine Alternative. Da ich Euch Titanen und Euer nachtragendes Naturell kenne, unterstelle ich, dass meine Anregung bei Euch Befriedigung auslöst.«
»Wir haben uns im Laufe der Jahrhunderte viele Feinde gemacht.« Agamemnon stapfte mit seinem monströsen Laufkörper umher und ließ die Bodenfliesen unter seinem immensen Gewicht zerbersten.
»Ja, aber dies ist ein besonderer Fall. Warum fliegt Ihr nicht nach Hessra und vernichtet die Elfenbeinturm-Kogitoren? Zumal es praktisch wäre, weil es dort Elektrafluid-Fabrikanlagen gibt, die Euch nützlich sein könnten. Aber ich nehme an, schon die Genugtuung, die Kogitoren auszuradieren, müsste Euch Grund genug für einen Angriff auf Hessra sein.«
Agamemnon bewegte den flexiblen künstlichen Kopf auf und ab. In seinem uralten Hirn überschlugen sich die Gedanken. »Du hast völlig Recht, Thurr. Ein Angriff auf Hessra würde weder bei den Hrethgir noch bei Omnius unverzügliche Beachtung finden. Und diese lästigen Kogitoren zu zermalmen, wird uns um der Sache selbst willen Freude bereiten.«